Von der aktuellen „Mode“ der „Authentizität“ im Theater erfahren wir im Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“. Ihr muss man sehr kritisch begegnen, denn: „Sie spielen, als ob sie nicht spielen.“
Das ist aber natürlich eine unverantwortliche Täuschung der Zuschauer.
Man sollte daher darüber nachdenken, ob man nicht besser das ganze Theater einfach verbieten sollte, denn da tun immer wieder Menschen so, als wenn sie ganz andere Menschen wären, als sie in Wirklichkeit sind. Da werden die Zuschauer im Saal hinters Licht geführt. Solche Verstellung dürfen wir Wahrheitsliebenden nicht länger dulden. Wie konnte es überhaupt soweit kommen?
Die Theaterbesucher waren früher tatsächlich so naiv anzunehmen, dass jeder Anwesende im Saal ohnehin wüsste, dass da oben auf einer Bühne Menschen andere Menschen spielen, ohne dass es nötig wäre, dass die Spieler es fortwährend deutlich machen müssten, indem sie nicht spielen wie wirkliche Menschen, sondern wie Laienschauspieler oder Figuren aus dem Kasperle-Theater.
Und vielleicht dachten sie sogar, dass das aktuelle unnatürliche Spielen im deutschen Gegenwartstheater eine Mode wäre, möglicherweise entstanden aufgrund eines Missverständnisses des Brechtschen Verfremdungseffekts.
Dass sie einfach nur „spielen, als ob sie spielen“, kann da nur ein erster Schritt sein. Konsequent wäre allein, das Spiel überhaupt zu verbieten.
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Blumen für die Liebe? oder: Probleme gibt es!
Die gute Christine Dössel [ref]bekannt aus den Beiträgen vom 16.6.13 und 21.10.14[/ref] sieht in in der „Flüchtlingsproblematik[ref]Süddeutsche Zeitung 20.10.15 „Angekommen“[/ref] auch künstlerisch eine Herausforderung”. Und sie stellt ohne Umschweife die für sie entscheidenden Fragen: „Wie das oft Unfassbare auf die Bühne bringen? Wie das Leid der anderen darstellbar machen? Wie mit ihrer Stimme sprechen?“
Nun, liebe Christine Dössel, wir möchten Ihnen gerne helfen. Hier ist die Lösung Ihres Problems: Wollt ihr die Stimme der Flüchtlinge – möglichst authentisch? – hören, dann sucht nicht ihre Stimme zu imitieren, sondern nehmt am besten gleich das Original, lasst einfach die Flüchtlinge mit ihrer Stimme sprechen.
Sie zitiert dann den Intendanten der Münchner Kammerspiele, Matthias Lilienthal, mit einer ihrer Meinung nach offenbar zitierenswerten Aussage. Der spricht nämlich superkritisch vom „Migrations-Hype im Theater“, den er sogleich für passé erklärt. Denn jetzt gehe es um „die Mühen der Ebene“. Diese blumige Aussage von Herrn Lilienthal meint, wie die intellektuell äußerst wendige Frau Dössel natürlich sofort erkannt hat, „die Umsetzung im Alltag“, und das meint, so meinen wir, die künstlerische Umwandlung mit theatralischen Mitteln, also die fremde Stimme hören lassen, möglichst authentisch, aber nicht wirklich. Ach so, aha! Denn hier, so Herr Lilienthal, müsse sich das Theater behaupten. Siehst du wohl?! Ja, genau so ist es. Bedauernd fügt er hinzu: „Man kriegt dafür keine Blumen.“ Schade![dropdown_box]
Das mit den Blumengeschenken ist wirklich schwierig. Denn nicht nur für die DDR-Literatur, sondern auch für die meisten bekannten Autoren, z.B. Grass[ref]Man vergleiche etwa die “Blechtrommel” mit dem “Krebsgang”.[/ref], war das Problem: Wenn die Mittel rein zweckbezogen als Illustration einer bestimmten „Aussage“ dienten, dann war das Werk künstlerisch eher karg und die Wirkung folglich auch eher gering. Man fragte sich dann oft verdrossen, was der Vorteil des künstlichen Kunstwerks gegenüber der direkt formulierten „Aussage“ war, da es ja auf die möglichst große gesellschaftliche Wirkung ausgerichtet war.
Ach, ja? Und was war mit Brecht? Na? Hatte der nicht gerade in den Werken. die seinen Ruhm begründeten, eine klare Aussage?
Nun, er hatte sie immerhin so weit verkleidet, dass z.B. seine Mutter Courage oder sein Puntila zunächst nicht die von ihm gewünschte Wirkung beim Publikum auslösten, wie man seiner “Theaterarbeit” entnehmen kann. Paradoxer Weise mögen die Regisseure heutzutage Bert Brecht nicht, und zwar gerade weil seine Stücke eine relativ klare Aussage haben, obwohl sie seine Aussage wiederum vielfach teilen. Da es aber zur Selbstinszenierung des „Regietheaters“ gehört, gerade den Stücken, deren Aussage sich nur mit eigenem Denken des Zuschauers erschließt, eine klare Botschaft zu unterlegen, können sie bei Brecht nicht viel inszenieren. Armer B.B.[/dropdown_box]
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Geeniaal!
Man sieht es ihnen nicht an, aber es sind Genies.
Wenn sie z.B. in Horvaths „Geschichten aus dem Wienerwald“ erkennen, dass die Figuren dort in ihrem Denken und Handeln beschränkte Spießer sind, dann lassen sie sie unter einer riesigen Käseglocke als Bühnenbild agieren.
Genial. Man braucht eigentlich gar nicht mehr hinzugehen.
Wenn sie z.B. erkennen, dass in Büchners „Dantons Tod“ die Figuren sich abstrampeln, ohne voranzukommen, dann stellen sie die Figuren auf rückwärts drehende Rollen, so dass sie nicht vorankommen.
Genial. Man braucht eigentlich gar nicht mehr hinzugehen.
Wenn sie z.B. in älteren Dramen erkennen, dass die Figuren, obwohl in vergangenen Zeiten lebend, doch in Situationen handeln und fühlen, wie es sie ähnlich auch in der Gegenwart gibt, transponieren sie das Stück in die Gegenwart, und nichts bleibt mehr fremd.
Genial. Man braucht wirklich gar nicht mehr hinzugehen.[dropdown_box]
P.S. Wohl ursprünglich auf einem falschen Verständnis von Brechts Verfremdungseffekt fußend hat sich im Theater ein Inszenierungsstil gebildet, bei dem man leider keine natürlich agierenden Menschen mehr sieht, sondern Marionetten des Regisseurs. Es braucht nicht mehr als ein Foto mit der manierierten, immer auf etwas verweisenden Haltung der Schauspieler, und schon kennt man bereits Mimik, Gestik und Sprechweise. Claus Peymann: „Seit Shakespeare, Molière und Goldoni wurden auf der Bühne Menschen erfunden, an die man glaubte. Im gegenwärtigen deutschen Theater ist dieses Vertrauen verloren gegangen. In Italien, in England, in Frankreich lacht man über den deutschen Regiewahn. Aber diese Mode wird vorübergehen. In der Theatergeschichte wird es nur eine flüchtige Sekunde sein, dann ist die Zeit der Amateure und des Theaters der Zufälligkeiten wieder vorbei.“ Oha, mit solchen Aussagen löst man beim “progressiven”, d.h. modebewussten Feuilletonisten heftige Aggressionen aus. Aber ob Mode oder nicht, ob im Ausland verlacht oder nicht, ist letztlich egal. Selbst die Anhäufung von gewollten Tabubrüchen erregt allenfalls die einfachen Gemüter der BILD-Leser, löst sonst nur noch ein unendlich gedehntes Gähnen aus.[/dropdown_box]
Spannende Geschichte
Der Sänger Orpheus verliert Eurydike durch deren Tod, macht sich auf den Weg in den Hades, um sie mittels Gesang ins Leben zurückzuholen.
Das ist ein Mythos, den wir heutzutage selbstverständlich auf der Bühne so nicht mehr sehen wollen. Denn über diesen ganzen veralteten Quatsch mit dem Hades, dem Fluss Acheron, dem Fährmann Charon, dem Höllenhund Kerberus, der Leier (!!) kann man ja heute echt nur lachen, aber das wollen wir nun wirklich nicht. Denn Tod ist ja eigentlich traurig und soll nicht nur Orpheus berühren, sondern auch die Theaterbesucher, nicht wahr? Tja, wie soll man das mit der Aktualisierung nur machen?
Die Leier ist das geringste Problem – da könnte sich Orphie einfach einen Ghettoblaster auf die eine Schulter packen, Spaten auf die andere, und dann nichts wie los auf den Friedhof, Leiche ausgraben und lossingen!
Aber tot ist tot, ey! Was tun?[dropdown_box]
Hach, bingo! Romeo Castelucci hat – zusammen mit der Klasse 7d der Helene-Vogt-Gesamtschule Bielefeld – eine Idee, eine tolle Idee, eine wunderbare Idee: Eurydike ist in seiner Wiener Inszenierung von Glucks Oper eine Wachkomapatientin im Geriatriezentrum! Und damit der Realitätsbezug noch größer wird, zeigt er doch wahrhaftig live eine echte, reale, authentische Wachkomapatientin. [ref]Ihr Einverständnis zu erfragen war – wegen Komas – leider nicht möglich.[/ref]
La ola! Pure Begeisterung! Echt genial! Nun müsste man sich nur noch überlegen, was die neuesten medizinischen Erkenntnisse in Bezug auf die Möglichkeit sind, eine Wachkomapatientin mittels Gesang ins Leben zurückzurufen, und warum es nicht nur gefährlich, sondern tödlich sein kann, sie dabei anzublicken.
Kann auch hier die Gesamtschule Helene Vogt helfen? Hat jemand eine Idee?
Wir sind gespannt.[/dropdown_box]
Ende gut, alles gut
Es ist schon eine vertrackte Situation: Annette Ramelsberger, die für das Feuilleton der „Süddeutschen“ schreibt und sich für einen kultivierten und sensiblen Menschen hält, der für Nazis nichts übrig hat und voller Mitgefühl ist für die Opfer der NSU, geht ins Theater, genauer gesagt ins Münchner Residenztheater, um sich noch einmal aufklären und rühren und bestätigen zu lassen von einem Stück über die NSU-Morde, genauer gesagt dem „dokumentarischen Stück ,Urteile’“.
Sie sieht dort im Bühnenbild einen großen Baum mit Wurzel, der auf dem Kopf steht, und erkennt auf der Stelle, dass dieser symbolisch Entwurzelung darstellen soll, entweder der Migranten oder der Nazi-Mörder oder beider, jedenfalls Entwurzelung. Klare Sache!
Diese Erkenntnis macht sie und alle anderen genauso intelligenten Zuschauer zunächst einmal sehr stolz auf ihre analytischen Fähigkeiten. Nun ist aber diese Entwurzelung für Frau Ramelsberger nichts Neues, denn sonst hätte sie ja dem entwurzelten Baum nicht die symbolische Bedeutung zugeschrieben, sondern womöglich einfach gedacht: ,Was macht denn der Baum da? Der steht ja auf dem Kopf! Das ist ja vielleicht verrückt. Hat man denn so etwas schon gesehen?!'[dropdown_box]
Obwohl sie die Fakten des dokumentarischen Stücks weitgehend kennt und ihr humanitäres Engagement über jeden Zweifel erhaben ist, erwartet sie vom Stück unbedingt etwas Neues, das sie irgendwie betroffen macht. So findet sie es z.B. gut, wenn gezeigt wird, dass die Schule, die die Tochter eines der Mordopfer besuchte, angeblich meinte, der Mörder ihres Vaters könnte die ganze Familie hassen und deshalb auf den Schulhof kommen und dort alle Kinder erschießen, und dass die Schule angeblich aus diesem Grunde, und nicht etwa wegen der Noten, die Tochter von der Schule abmeldete. Das war gut, denn Frau Ramelsberger kommentiert: „Man muss sich nur ganz kurz vorstellen, dass das eigene Kind auf diesem Schulhof spielt – und das hämische Lächeln über die im Nachhinein falschen Verdächtigungen gefriert.“ Alle Achtung: Wenn auch nur “ganz kurz”, das ist wahrhaft fein gefühlt!
Doch so erfreulich dieser Moment für die Zuschauer war, die „abendfüllende Selbstanklage“, nach der die deutsche Gesellschaft „ressentimentgeladen, rassistisch, vorurteilsbefangen“ sei, misslingt nach Meinung der Rezensentin.
Das ist natürlich traurig, denn da kommt ein Publikum ins Theater, das, weil es gegen Ressentiments, Rassismus, Vorurteile ist, sich durch eine Anklage gegen Ressentiments, Rassismus, Vorurteile rühren lassen möchte, und wird so enttäuscht.
Die Rezensentin selbst allerdings konnte nicht ohne Genugtuung nach Hause gehen. Es kommen in der Aufführung nämlich zwei Polizisten vor, die genau so sind, „wie man sich dumme und bornierte Polizisten vorstellt“. Und so hat Frau Ramelsbergers Spürsinn bei den „Theatermachern“ Vorurteil und Ressentiments erkannt: „Wie konnte man auch annehmen, dass Theatermacher keine Vorurteile haben und keine Ressentiments pflegen?“
Na, also, geht doch.[/dropdown_box]