„Mir graust es, wenn ich sein Antlitz sehe“, schreibt Heine in seinem Gedicht über den Doppelgänger. Allerdings handelt es sich bei ihm nicht um eine dissoziative Identitätsstörung. Er betrachtet nur entsetzt das Bild, das er als unglücklicher Liebhaber seiner Cousine Amalie abgibt: „Du Doppelgänger! du bleicher Geselle!“
Das ist bei Dr. Jekyll anders, der aus den Konventionen bürgerlichen Anstands ausbricht, um als Mr Hyde seinen asozialen Trieben nachzugeben. Die beiden Gestalten seiner gespaltenen Persönlichkeit existieren neben einander. Aber Dr. Jekyll weiß von seiner Doppelexistenz als Mr. Hyde. Solche Hellsichtigkeit ist aufgrund von Verdrängungen wohl eher selten. Rudolf Höss, der Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz, lebte in einer Idylle, in der der von ihm betriebene Massenmord nur als eine – nun ja zugegeben – unschöne Nebenerscheinung wahrgenommen wurde. So hatte er es weiter gemütlich am Kamin.
Und nun zu Ralf Wiegand.
– Wer ist das? Muss ich den kennen? Hat er auch Menschen umgebracht?
– Nein, er bringt keine Menschen um. Er ist auch kein Sadist, der zusammen mit Florian Silbereisen und den Wildacker Herzbuben seine Hörer durch grässlich primitive Schlager in den Wahnsinn treibt oder sie in ihrem Wahnsinnn bestärkt. Er interessiert nur, weil er eine milde Form der dissoziativen Persönlichkeitsstörung zeigt, aber eine, die sehr verbreitet ist, besonders unter Journalisten.
Bei Ralf Wiegand gibt es, wie z.B. sein Kommentar in der „Süddeutschen Zeitung“ („Sprengstoff“ 9.2.21 S.4) zeigt, die eine Persönlichkeit – wir wollen sie Ralf nennen – die dank gesundem Menschenverstand die Realität wahrnimmt und dank gut ausgebildetem Urteilsvermögen den Maßstab anlegt von dem, was recht bzw. gerecht sein sollte.
Ralf erkennt, dass es das „Gerechtigkeitsempfinden der Menschen“ – und anscheinend auch seines – berührt, wenn der Staat einerseits von den Durchschnittsbürgern Steuern „abkassiert“, „die Grundsteuer fürs Häuschen im Grünen, die Erbschaftssteuer auf Omas Erspartes, Einkommenssteuer, Mehrwertsteuer“, aber das große Geld, die Gewinne der Multimilliarden-Konzerne, durch deren Auszug in Steueroasen kaum beschneidet. Diese haben nämlich „die legale Steuervermeidung perfektioniert“. Klarsichtig stellt Ralf fest: „Im Prinzip sind die Abgaben an den Fiskus ein Akt der ganz großen Solidarität einer Gemeinschaft, die sich durch Geben und Nehmen gegenseitig unterstützt.“ Seltsamerweise kennzeichnet er diesen Gedanken als „romantisch“: „So romantisch können Steuern sein.“ Er weist auch darauf hin, dass „die Bürger die Bildung, das Gesundheitswesen, die Verwaltung“ usw. finanzieren und dass „die reichen Konzerne der Welt“ davon profitieren, immer reicher werden, ohne dass ein Teil der riesigen Gewinne „in Form von Steuern, die allen dienen“, zurückkommt. Und er sieht auch: „Das Geld, das in Steueroasen lagert (…), fehlt woanders.“ Es sollen nach Schätzung von Experten bereits 2014 sieben Billionen Dollar gewesen sein. Daraus entstehe bei den Bürgern das Gefühl: „Wir hier unten, die da oben.“ Sie sind empört; auch Ralf ist empört und fordert, dass sich die Dinge ändern müssen.
Aber dann: Empörung? Hier schrillen die Alarmglocken bei der zweiten Persönlichkeit, die wir aufgrund ihrer Nähe zu den Konventionen Herr Wiegand nennen wollen. Herr Wiegand ist Journalist und arbeitet zwar nicht bei der „Frankfurter Allgemeinen“, der „Welt“ oder gar der BILD, aber immerhin bei der seriösen, bürgerlich liberalen „Süddeutschen“!
Ralf und Wiegand
Herrn Wiegand ergreift plötzlich die Angst vor Ralf. Denn Herr Wiegand folgert: „Verschwörungstheorien, wonach sich eine globale Elite mit Billigung der Staaten bereichert, speisen sich aus dieser Wut. Sie nehmen jeden noch so abstrakten Anlass (!) als Beweis: Steueroasen sind immer für die anderen – und die Gelackmeierten“ sind wir. Tja, was sind denn das für Menschen, die nach einem noch so abstrakten Anlass suchen, um zu beweisen, dass nur die Reichen die Steueroasen nutzen, Besser wäre es, wenn die Gelackmeierten es ihnen gleichtun könnten? Aber da das momentan ja nicht geht. müssen wir alle wie Herr Wiegand alarmiert sein, denn: „Jeder Populist kann daraus sozialen Sprengstoff mixen.“
Hui, pfui, hier drohen ja schreckliche Gefahren: Verschwörer, fiese Populisten lauern überall im Untergrund, um irgendwann daraus hervorzustürmen und die von Ralf erkannten Tatsachen für ihre – finsteren – Zwecke zu missbrauchen. Diese unheimlichen Gestalten wollen die ungleiche Gesellschaft nicht – wie? völkisch? – zusammenführen, wie es sich gehört, sondern sie sprengen (!), womöglich gar einen unseligen Klassenkampf herbeiführen.
Oh je, oh weh, Herrn Wiegand wird da auf einmal ganz heiß, und Schweißtropfen rinnen über Augen und Nase. Ganz außer sich blickt er nun auf diesen unheimlichen Ralf und Herr Wiegand fragt sich, d.h. Herrn Wiegand, voll Grausen angesichts von möglicherweise durch Ralf hervorgerufenen Verschwörungstheorien und Populismus: „Um Himmels willen, was ist mir da unterlaufen? Wer hat das geschrieben? Nein, nein, nicht ich, der ,bleiche Geselle’, das war nicht ich!“