Es war einmal ein Kaiser …
– Ach, Sie wollen uns Märchen erzählen? Das lassen Sie mal lieber bleiben.
– Nun warten Sie doch erstmal ab. Na, gut. Ich fange noch einmal neu an.
Ein Herrscher hatte einst …
– Ach, „einst“ – wie das schon klingt! Könnten Sie nicht lieber etwas erzählen, was in unserer Zeit spielt?
– Ihnen kann man es aber nur schwer recht machen. Ich fange nochmal an:
Ein Herrscher – nenne wir ihn Erwin – verfügte vor nicht allzu langer Zeit über einen erstklassigen Friseur und einen eigenen Schneider. Erwin war sehr eitel, und jeden Abend besah er sich in einem kleinen goldenen Spiegel – er konnte sich goldene Spiegel leisten, denn er war ja ein mächtiger Herrscher – und bewunderte sich. Aber der Spiegel zeigte nicht nur ihn, sondern im Hintergrund auch eine Wand seines Wohnzimmers mit einem Foto von seiner Frau und einen Tisch mit einem Kaktus in einem Blumentopf. ((Von dem Kaktus und der Frau wird im Folgenden nicht mehr die Rede sein.)) Erwin war damit gar nicht zufrieden; er fand das popelig. Da er ein Naturfreund war, ließ er in einem Naturschutzgebiet einen sehr großen Palast erbauen. Er sollte wirklich gigantisch sein, größer als alle anderen Herrscherpaläste auf der ganzen, ganzen Welt. Deshalb hatte er seine Diener viele Bilderbücher kaufen lassen mit Bauwerken mächtiger Herrscher, die sich Duce, Führer, Stalin u.ä. nannten. Dann ließ er für 600 Millionen US Dollar von seinen Untertanen einen Palast bauen mit 1100 Zimmern. Und als er fertig war und Erwin eingezogen war, wanderte er jeden Abend über teure weiche Teppiche von einem mit Seidentapeten verzierten Zimmer in das andere, besah sich das eine oder andere von seinen vielen Schwimm- und Dampfbädern und stellte sich schließlich, wenn er müde wurde, vor eine der vielen Treppen, sah dann in seinen goldenen Spiegel und ließ sich von einem seiner zahlreichen Diener fotografieren. Dann betrachtete er versonnen sein Foto und murmelte: „Es ist unglaublich, wie großartig ich bin. Na, Spiegel, was sagst du nun? Gar nichts mehr, was?“ – und zufrieden lächelnd begab er sich sodann auf die Suche nach einem seiner vielen Schlafgemächer.[htsP anchor_text=”Weiterlesen”]
– Hören Sie, da haben Sie sich ja was Tolles ausgedacht. Hatten Sie nicht versprochen, dass Sie uns keine Märchen erzählen wollten?
– Manchmal ist das Leben märchenhaft.
– Sprüche!
– Sie lassen sich doch sonst alles Mögliche vormachen, wenn Sie vor dem Fernseher sitzen und sich mit Scripted Reality berieseln lassen.
– Ist ja schon gut. Machen Sie ruhig weiter. Ich bin gespannt, was Sie uns noch alles vorschwindeln werden.
Nach einiger Zeit wurde ihm jedoch langweilig. Er dekorierte die Treppe jeweils mit ein paar Komparsen, lud fremde Herrscher ein und und ließ sich dann vor der Treppe mit ihnen fotografieren – es half nichts. ((https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Recep_Tayyip_Erdo%C4%9Fan_Mahmoud_Abbas.jpg#/media/File:Recep_Tayyip_Erdo%C4%9Fan_Mahmoud_Abbas.jpg)) Er schaute in seinen Spiegel und fragte: „Bin ich vielleicht doch nicht der größte Herrscher der Welt?“ Der Spiegel gab ihm aber keine Antwort. Da fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen: „Sch… Was nützt mir der größte Palast der Welt mit 1100 Zimmern und vergoldeten Möbeln und schweren damastenen Vorhängen und Schwitzbädern in einem Naturschutzgebiet, wenn ich zwar mächtig, aber nicht allmächtig bin. Jeder kann mich kritisieren, ohne dafür bestraft zu werden; Richter und von anderen Menschen gemachte Gesetze können mir vorschreiben, was ich zu tun oder zu lassen habe. Ich Unglücklichster unter den Sterblichen, ich bin ja tatsächlich nur ein armer Wicht, ein konstitutioneller Kaiser.“
– Na, hat man schon sowas Verrücktes gehört: Statt sich an seiner 1100-Zimmer Wohnung zu freuen … Und einen schicken SUV hat er doch bestimmt auch. Die Heizungskosten lässt er sich wahrscheinlich auch bezahlen.
– 600 000 US Dollar jeden Winter zahlen seine Untertanen.
– Oh, der hat’s gut. Miete und Heizung sind nämlich schon bei einer Zwei-Zimmer-Wohnung kein Pappenstiel, müssen Sie wissen.
– Ich weiß. Lassen Sie mich weiter erzählen?
Erwins Untertanen liebten ihren Herrscher sehr, denn er sagte ihnen immer wieder, dass ein Volk mit so einem teuren Palast mit so vielen Zimmern ein reiches und ruhmvolles Volk sein müsse. Jeder könne und müsse darauf stolz sein, dazu zu gehören, sei er auch noch so arm und ungebildet. Ja, besonders die Armen und Ungebildeten sollten stolz darauf sein, denn sie hatten ja sonst nichts, worauf sie hätten stolz sein können. Und diesen Ruhm würden sie natürlich alle dem verdanken, der so prachtvolle Paläste bauen könne – größer als alle Paläste im ganzen Universum. Und die Armen und Ungebildeten fanden das tatsächlich ganz großartig und waren mächtig stolz auf das, was ihr Herrscher erbaut hatte, denn sie selbst hatten ja nichts. Und Erwin schmeichelte ihnen, indem er ihnen einredete, dass Bildung und Intellekt teuflische Erfindungen feindlicher Mächte wären. Die „Eierköpfe“ seien nur Nestbeschmutzer, vaterlandslose Gesellen, die immer alles besser wussten und ständig nur kritisierten, einem alle Freude nahmen, z.B. an riesigen Palästen, und endlos diskutierten und diskutierten, statt einfach das zu tun, was ihnen gesagt wurde.
– Genau.
Erwin wollte nun aber zu gerne absoluter Herrscher sein, wie die Sultane in „Tausend und einer Nacht“. Entsprechend märchenhafte kostbare Gewänder hatte er schon anfertigen lassen. Er mochte nicht mehr lange warten. Und schnell fand er ein einfaches Mittel: Er wusste aus der Geschichte, dass schlaue Diktatoren die Freiheiten der Demokratie dazu genutzt hatten, sie abzuschaffen. Man musste Wahlen abhalten und sich dann „ermächtigen“ lassen.
– Aha, das ist mir der Richtige.
So ließ er denn darüber abstimmen, ob er zukünftig viel, viel mehr Macht haben sollte, um noch schönere und noch größere Paläste zu bauen, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte, so dass der Ruhm seines Volkes sich für alle Zeiten in die ehernen, von kostbaren damastenen Vorhängen umsäumten und auf seidenen Teppichen ruhenden Geschichtsbücher eingraben würde.
Als nun in der Abstimmung zu seiner Überraschung die Hälfte seiner Untertanen für und die andere aber gegen ihn gestimmt hatte, da rann eine kleine sehr kostbare Träne aus dem rechten Winkel von Erwins rechtem sehr kostbarem Auge. Er war sehr enttäuscht und tief verletzt und bestimmte, dass sein Hofnarr die Wahl entscheiden sollte. Und siehe da: Erwin hatte gewonnen.
Schuld an den vielen Gegenstimmen konnten – das wusste er jedoch ganz genau – natürlich nur finstere fremde Mächte sein. Da freute es ihn sehr – Allahu akbar – , dass plötzlich ein paar von seinen Feinden mit gezückten Krummsäbeln in seinen gut bewachten Palast einzudringen versuchten. Sie konnten kaum gucken, weil ihnen beim Laufen immer wieder der Fes über die Augen gerutscht war, stolperten über ihre Pluderhosen und schlugen sich beim Fallen ihre Nasen blutig. Sie hatten auch vergessen, ihre Krummsäbel zu schleifen, die so stumpf waren, dass sie damit nicht einmal eine geschälte Banane hätten durchtrennen können. Als sie nun da wild durcheinander gewürfelt, mit blutigen Nasen auf dem Boden lagen, ließ Erwin sie einsammeln, besah sich amüsiert, wie sie ein wenig durchgeprügelt und dann eingesperrt wurden, und dankte Allah, denn dieser Gott, der, wie es immer alle Götter tun, auf der Seiten der Guten, also auf Erwins Seite, stand, hatte ihm nicht nur die harmlosen Feinde geschickt, sondern ihm natürlich auch einen Grund geliefert, nicht nur die Krieger, sondern überhaupt alle, alle Bösen, und nicht nur alle Bösen, sondern auch alle, die böse guckten, im ganzen Land einzusperren, so dass bald seine Gefängnisse von Gefangenen überquollen und er sich gezwungen sah, die Todesstrafe wieder einzuführen. (Denn er wollte für die Gefangenen keine Paläste bauen.)
Obwohl er also das alles nur tat, um sein Land vor dem Bösen zu bewahren, gab es auch außerhalb seines Landes Menschen, unwissend und von falschem Mitgefühl fehlgeleitet, die sich empörten und ihm unterstellten, dass sein einziges Streben wäre, dass ihm alle Welt als Erwin dem Größten huldigen sollte. Doch Erwin war kein Trumpel, und seine Ehre war riesig und heilig. Und als er nun davon hörte, verkündete er schlau, dass nicht er von Gelüsten nach unumschränkter Macht getrieben würde, sondern in Wahrheit alle anderen, besonders die, die ihm diese Machtgier unterstellten: Wer es sagt, der ist es selber. Und er ließ schnell noch einige Menschen aus solchen Ländern in seine Kerker werfen. Und als nun die Regierungen dieser Länder ihre Bürger warnten, in ein so gefährliches Land zu reisen, da warnte er schlau seinerseits seine Untertanen davor, in so ein Land zu fahren, das seine Bürger davor warnte in ein Land zu reisen, in dem man so ohne weiteres in ein Gefängnis gesteckt werden konnte.
– Ist die Geschichte nun zu Ende? Sie wiederholt sich!
– Nein, sie geht noch lange weiter. Aber sie wiederholt sich allerdings und ermüdet. Ich wollte eigentlich noch die Geschichte von Donald, dem Schnatterer, und Kim Jong-un, dem Pökerface, erzählen. Beide hatten einen guten Friseur – na ja, gut, darüber lässt sich streiten – und selbstverständlich einen goldenen Spiegel. Also, der eine hat den anderen einen geistesgestörten Greis genannt, und der andere hat den einen einen verrückten Raketenmann genannt. Darauf hat der eine gesagt, er werde den anderen und sein ganzes Land zerstören, und darauf hat der andere gesagt, er werde den einen und sein ganzes Land zerstören.
Ich bin nun allerdings ein wenig müde geworden. Deshalb setze ich mich jetzt in meinen Ohrensessel, öffne eine Flasche und trinke auf unser aller Gesundheit und eine friedliche Zukunft.[/htsP]
Na, denn: Prost!
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