Angenommen Sie sind ein glühender Verehrer der herrschenden Klasse, der Sie sich irgendwie zugehörig fühlen wie die Apotheker und jungen Wähler der FDP und der sie deshalb wünschen, sie möge ewig währen und immer noch reicher werden und noch reicher – auch durch Steuererleichterungen, und Sie glauben daher fest daran, dass diese Klasse der oberen Zehntausend es zu ihrem Reichtum nicht etwa durch Erbschaften und Spekulationen auf dem Finanzmarkt gebracht hat, sondern wie Friedrich Merz durch Tellerwaschen oder weil Gott es als glühender Anhänger und Kreisvorsitzender der Christlichen Union so gewollt hat, und Sie suchen daher dringend eine Rechtfertigung für Ihre Liebe zu den Herrschenden dieser Welt, dann sind Sie natürlich überzeugt, dass alles von Gott, d.h. dem Freien Markt, sei, denn sonst hätte Gott sein Kreuz bei den Linken gemacht und ihnen überall auf der Welt die absolute Mehrheit geschenkt. Aber Sie wissen dann auch, dass der Mensch frevelt, wenn er sich erdreistet, in die gottgewollten Verhältnisse eingreifen zu wollen. Denn Gott ist ein Gemäßigter und verkörpert die Mitte. Und von luziferischer Überhebung und Maßlosigkeit zeugt, etwas an den gottgewollten Verhältnissen ändern zu wollen.
Obwohl also Gott lenkt – und vom Allwissenden alles determiniert ist – , denkt der Mensch manchmal, er müsse Gottes Werk rechtfertigen. Der Mensch kann nämlich ziemlich verrückt sein: Es gibt z.B. Faschisten, Nazis, Querdenker, alle Arten von Verschwörungstheoretikern. Menschen lassen Pendel schwingen, laufen Rute, lesen Kaffeesatz, deuten den Stand der Sterne, knien gen Osten, Westen, Süden usw., lassen sich einen Bart wachsen und rasieren sich, malen sich an und setzen sich Perücken auf, verhüllen sich und spazieren auf Nacktwanderwegen – und sie schaffen sich, wenn die Aussage des Kaffeesatzes unzureichend bleibt, ihre Propheten als Repräsentanten irdischer Autorität, auf dass diese ihren Glanz auch auf sie selbst werfen.
In der „Süddeutschen Zeitung“ vom 11.10.21 beschäftigt sich ein solcher Mensch, der Journalist Claus Hulverscheidt, z.B. mit der akut in den USA diskutierten Frage, ob US-Präsident Biden den Chef der US-Notenbank Fed Jerome Powell weiterbeschäftigen oder ablösen sollte. Er ist hier auf einen Streit zwischen „gemäßigten und linken Demokraten“ aufmerksam geworden. Und das ist natürlich schon die halbe Miete: gemäßigt oder links! Denn Elizabeth Warren, die für die Ablösung Powells eintritt, ist nicht eine „gemäßigte“, also gottesfürchtige, sondern eine „linke“ Politikerin, also eine verblendete – so wie einst der ebenfalls linke Oskar Lafontaine, der, wie Hulverscheidt anmerkt, „wegen seiner teils kruden Ideen“ einst vom Revolverblatt „Sun“ als „gefährlichster Mann Europas“ gebrandmarkt wurde. Links kann also, weiß Hulverscheidt – und hier liegt er wohl auf einer Linie mit der “Sun” -, sehr, sehr gefährlich sein. Die nicht gemäßigte, also maßlose Frau Warren hat allerdings Powell als „gefährlich“ bezeichnet, da er z.B. die Bankenregeln gelockert hat. Doch da gerät Claus Hulverscheidt aus dem Häuschen: Ein „rüdes Foul“ nennt er dies Urteil! Die Frau muss ja total hirnverbrannt sein, denn Hulverscheidt kann nur empört feststellen: „dieser kreuzbrave, stets pflichtbewusste Biedermann“ ist – anders als Lafontaine – ein Gemäßigter! Wie kann er da „gefährlich“ sein?!! Und was dem Ganzen die Krone aufsetzt: Auch „aus Sicht gemäßigter Demokraten“ hat er doch „fast alles richtig gemacht“. Wie verblendet muss man da sein, wenn man anderer Meinung ist! Aber Hulverscheidt führt nicht nur die gemäßigten Demokraten an, lässt es nicht bei deren gottesfürchtigem Urteil, sondern er braucht auch noch irgendwelche Propheten, und zwar viele, natürlich überaus gemäßigte, also gottesfürchtige und damit unfehlbare Propheten: Warrens Urteil, behauptet der maßvolle Hulverscheidt nämlich „hält aus Sicht vieler Experten keiner Überprüfung stand“. – „Zwar wurden tatsächlich Regeln gelockert, zumeist aber nur solche, die Fachleute tatsächlich für überzogen und konjunkturschädlich hielten.“
Gott sei Dank, dass es diese „Fachleute“ bzw. „Experten“ gibt, die gemäßigt in der Mitte alle anderen, d.h. linke und somit Nicht-Fachleute, aus dem Himmel der Seligen verstoßen. Gläubig ergriffen und entsprechend tief verneigt sich Claus Hulverscheidt vor solchen Propheten. Sollte es sie nicht geben, müsste er sie erfinden. Aber natürlich gibt es sie – immer. Wie würde die Welt ohne sie aussehen!
Claus Hulverscheidt hat also wieder einmal Recht gehabt. Und die Linken können sehen, wo sie bleiben.1
Trotz herbstlicher Kälte und barem Schädel: Hut ab!