-Entschuldigung, können Sie mir vielleicht sagen, wo ich die deutsche Leitkultur finde?
– Ist sie weggelaufen?
– Hören Sie: Sie ist bedroht. Sie wird uns gerade geraubt.
– Ach, sagen Sie mal, das ist ja unerhört. Wer sind denn die Übeltäter?
– Diese Kosmopoliten, die Multikultis, z.B. diese Integrationsbeauftragte Özoguz. Die hat schon so einen Namen, den man sich kaum merken kann – statt Schröder oder Krause zu heißen oder Wiesengrund Adorno oder Rainer Maria Rilke. Und diese Özdings behauptet, das Deutschtum, also das, was uns zu Deutschen macht, wäre nur die Sprache! Empörend! Was wird dann z.B. aus der deutschen Wurst, der Krakauer, dem Wiener Würstchen? Oder aus dem Zigeunerbraten? Oder der geilen Haxe mit Kraut? Sie sind doch mit der deutschen Seele verwachsen, und zwar seit dunkler Vorzeit – so wie das Reinheitsgebot des deutschen Bieres. Es geht doch um deutsches Brauchtum:
Die Schnecke nicht noch Frosch
schmecket dem Boche.
Doch isst er auch das letzte Fitzel
von dem Zigeunerschnitzel.
Oder was soll z.B. aus ihm werden, dem deutsche Kehrbesen? Düstre Verzweiflung presst mir den deutschen Busen. Schon halb erstickt entringt sich ihm der Ruf: Erwachet![htsP anchor_text=”Weiterlesen”]
– So beruhigen Sie sich doch. Sie sind ja ein tapferer Krieger im Dienst der deutschen Seele. Aber Sie sind ja nicht allein: Es gibt da z.B. Thea Dorn, Autorin von „Die deutsche Seele“. Als „Philosophin“ – so wurde sie bei Anne Will vorgestellt – muss sie wissen und weiß es selbstverständlich auch, was deutsche Kultur ist bzw. als Leitkultur zu sein hat. Sie hat es bei Anne Will ((in der Sendung vom 17.09.17)) verkündet: Deutsch – das sind die Anna Amalia Bibliothek in Weimar, das Oktoberfest, der Ostseestrandkorb, Bayreuth. Und falls jetzt wieder jemand lachen sollte und wenn Gesine Schwan nicht weiß, was Oktoberfest und die Herzogin Anna Amalia Bibliothek gemeinsam haben, so antwortet ihr nicht die Thea, sondern der Theo, der Theo Waigel, dass das Oktoberfest ja nicht nur der Maßkrug sei.
– So ist es. Sie begreifen es nicht: gemütlich (!) im Strandkorb sitzen, in der Linken einen Maßkrug mit bayrischem Bier (nicht nur) und in der Rechten ein Buch aus der Anna Amalia Bibliothek (nur eines zur Zeit) und dem „Parzival“ aus dem Kofferradio lauschen – das ist deutsch, in dieser Kombination sogar deutschdeutsch.
– Entschuldigen Sie: Ich habe Ihnen die ganze Zeit zugehört. Ich möchte dazu auch mal etwas sagen. Ich heiße Michael Schmidt und wohne in Kotzenbüll. Das ist anscheinend ganz weit weg von Bayreuth. Und mir sind sowohl der Karneval als auch das Oktoberfest fremd. Ich bestelle mir keine Mass und auch kein Kölsch. Ich habe auch gar keinen Strandkorb, sondern ein Auto, das ich so liebe wie Hasso, meinen Hund. Bis heute wusste ich nicht, dass es eine Anna Amalia in Weimar gibt und dass sie eine Bibliothek hat. Den Namen Amalia finde ich genauso doof wie den von Eberhard. Wenn ich den Namen Wagner höre, nehme ich Reißaus – nicht wegen des Namens, sondern wegen der Musik. Ich verehre auch nicht den heiligen Kehrbesen, wie die schwäbische Hausfrau. Ich verstehe sie ja kaum, wenn sie redet: „Wer hodden do scho wieder sein Dregg nohgschmissa? Iberall vergnergelde Babbierla, Ziggareddaschachdla ond a Haufa andrs Zeigs fahrd rom!“ So ulkig sprechen sie da. Ich trage weder einen Lodenmantel noch einen Gamsbart am Hut und jodle nicht einmal aus Versehen. Die Namen Goethe oder Mozart kenne ich – ich bin ja kein Banause. Bücher lese ich aber eigentlich gar nicht, nur die Bild-Zeitung wie die meisten Deutschen. Die ist aber auch kein Buch, angeblich nicht einmal eine Zeitung, obwohl sie sich so nennt. Ich liebe Florian Silbereisen, den deutschen Schäferhund (meinen Hasso) und den Gartenzwerg – ich habe einen ganz großen neben der Haustür. Die deutsche Seele, das ist für mich: Bild, Gartenzwerg, Silbereisen, Schäferhund. Bitte sagen Sie, dass meine Seele deutschdeutsch ist, dass mein Brauchtum tauglich ist zur Leitkultur. Damit ich endlich wieder ruhig schlafen kann. Ich muss doch hoffentlich nicht Wagner hören, um Deutscher zu sein?[/htsP]