Krank? Krank!

Zwar haben wir uns bisher über den inflationär und häufig schief angewandten politischen Kampfbegriff „Populismus“ mokiert[ref]Populismus: Rolle des BND unbewiesen vom 16.6.15[/ref], aber nachdem wir uns kundig gemacht haben, was scharfsinnige Journalisten unter „Populismus“ verstehen, wagen wir es endlich auch, Politiker als Populisten anzuprangern. Da nicht zu übersehen ist, dass Griechenland sich „ohne Schuldenschnitt auf den unausweichlichen Bankrott“ zu bewegt, nennt es Wofgang Münchau [ref]Associate Editor und Kolumnist der “Financial Times”sowie Mitbegründer und einstiger Co-Chefredakteur der deutschen Ausgabe, Autor mehrerer Bücher zur internationalen Finanzkrise[/ref] eine „Lebenslüge“ bzw. „die größte Lebenslüge des 21. Jahrhunderts“, wenn die Deutschen weiter an die Rückzahlung der gesamten griechischen Schulden glauben. Ist es nun eine Lebenslüge oder ein Betrug an den Wählern, denen man vorher weisgemacht hatte, dass der deutsche Steuerzahler keinen Cent an die Griechen verlieren würde? Sind Schäuble, Merkel und Co etwa schmierige Populisten? „Die griechische Regierung kann zwar noch weitere Haushaltseinsparungen vornehmen, braucht aber unbedingt einen expliziten Schuldenschnitt, damit das funktioniert,“ stellt Münchau fest.[dropdown_box]
Das Verhalten der deutschen Regierung sei irrational: „Wenn sich die Insolvenz des Kreditnehmers abzeichnet, dann handelt der Kreditgeber rational, wenn er auf einen Teil des Geldes verzichtet und so die Insolvenz und damit den Totalausfall seiner Forderung vermeidet.“ – „Aus deutscher Sicht gibt es zwei Lösungen der Griechenland-Krise. Entweder verlieren wir die ganzen 80 Milliarden Euro an Griechenland-Krediten. Oder wir verlieren nur einen Teil davon. Es ist die offizielle Position der Bundesregierung, dass sie unbedingt alles verlieren will.“
Unglaublich ist, wie die gesamten Medien immer wieder einhellig den Griechen Tricksereien unterstellen und sich kringelig lachen über den “Spaßhansel” Varoufakis (Martin Schulz). Münchau meint hingegen dazu: „Die Griechen spielen mit offenen Karten. Das ist es ja gerade, was die Verhandlungspartner so irritiert. Die Griechen sagten im Februar: keinen Deal ohne Schuldenschnitt. Und sie sagen genau dasselbe auch jetzt noch. So wie einst Martin Luther stehen sie da und können nicht anders.“ Und was entgegnet dem der Schäubele? “Unerfreuliche Situationen werden durch Wiederholung nicht erfreulicher.” Und durch solche Kommentare werden sie sogar noch unerfreulicher. Es wäre immer die “gleiche Leier”. Ja, ja, ja! So ist es. So ist es. So ist es.
Aber immerhin wagt auch die Kolumnistin Carolin Emcke in der “Süddeutschen” (20.6.15) zu schreiben: Sie könne nicht begreifen, “wie diejenigen, die etwas von Wirtschaft verstehen, bei der Kreditvergabe annehmen konnten, Griechenland würde einen Primärüberschuss von 4,5% erwirtschaften können”, und man müssen kein Wirtschaftsnobelpreisträger sein wie Joseph Stiglitz oder Paul Krugman, die die Politik der Troika für das griechische Elend verantwortlich machen, “um zu bezweifeln, dass allein die Senkung von Lohnkosten und eine strikte Spar- und Reformpolitik” aus der griechischen Misere führen könne: “Wenn sogar ich kalkulieren kann, dass ein Schuldenberg von mittlerweile 300 Milliarden Euro nicht abzutragen ist”, so meint sie, “warum steht das Eingeständnis, dass das Geld schlicht weg ist, nicht am Anfang aller Gespräche? Warum bleibt ein Schuldenschnitt oder eine Umschuldung tabu?” Und auch sie fragt sich, “ob ausreichend Rationalität unterstellt werden kann”. – “Wohlgemerkt, es ist unstrittig, dass ein Schuldenschnitt über kurz oder lang unvermeidlich ist. Die Gläubiger bestehen also wider besseres Wissen auf der formellen Anerkennung einer tatsächlich untragbaren Schuldenlast. Bis vor Kurzem beharrten sie sogar auf der buchstäblich fantastischen Forderung eines Primärüberschusses von mehr als vier Prozent.”, so Jürgen Habermas[ref]Süddeutsche Zeitung 23.6.15[/ref]. Hat die griechische Regierung ganz Unrecht, von “Terrorismus” zu sprechen?
Oder sollten wir es schmierigen Populismus nennen,

wenn die Politiker verbreiten, dass den Griechen es versäumen, die Steuereinnahmen zu effektivieren, obwohl laut OECD große Fortschritte bei der Finanzverwaltung erzielt wurden, die Bemessungsgrundlagen der Steuern verbreitert wurde, Vorschriften intensiviert wurden – so ein internes Papier aus Schäubles Ministerium – , zudem die Staatseinnahmen im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung – so auch der ,Wirtschaftsweise’ Peter Bofinger – so stark (deutlich höher als in Deutschland) gestiegen sind, und Griechenland im europäischen Vergleich Durchschnitt ist[ref]Es ist ungeheuer ärgerlich, dass die Regierung es bisher immer noch nicht geschafft hat, die Reichen ausreichend bei den Steuern zu belasten. Sie hat aber die offenbar uneffektiv arbeitende Steuerverwaltung stark ausdünnen müssen.[/ref],

wenn sie verbreiten, dass die griechische Regierung nichts gegen den aufgeblähten Verwaltungsapparat täte, obwohl es prozentual weniger Beamte gibt als in Dänemark, Schweden, Luxemburg, Frankreich, und ignorieren, dass die Regierung die Beamtenschaft in den letzten Jahren halbiert hat und dass die von Tsipras – Skandal! – wieder eingestellten Beamte nur 9000 von 220 000 waren, und zwar solche, die ohne Rechtsgrundlage entlassen worden waren,

wenn sie verbreiten, dass die Regierung reformunwillig sei, obwohl laut Ranking der OECD sie mehr Reformfortschritte bewirkt hat als die Krisenstaaten Italien, Spanien, Portugal, Frankreich, Irland, so dass Marcel Fratzscher, Professor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, urteilt, dass das Reformprogramm eigentlich gut sei[ref]Nebulös erscheint hier, dass die Regierung die Verteidigungsausgaben nicht, wie vom Kreditgeber gefordert um 400 Millionen, sondern nur um 200 Millionen kürzen wollte. Möglicherweise ist hier der rechte Koalitionspartner schuld, der das Verteidigungsministerium leitet.[/ref]

wenn sie verbreiten, dass die Sparpolitik schließlich in den anderen Krisenländern, wie Irland und Portugal erfolgreich gewesen sei, obwohl es fragwürdig ist, ob man es als Erfolg werten kann, wenn sich in Portugal die Zahl der Mindestlohnempfänger seit 2006 verdreifacht hat, die Arbeitslosigkeit fast 30% beträgt, die Verschuldung von 96,2% des BIP im Jahre 2012 auf 129% im Jahre 2014 gestiegen ist, dass Irlands BIP zwar erheblich gewachsen ist, man aber in dieser Rechnung berücksichtigen müsste, wie wie tief zuvor der Absturz war – “Selbst eine tote Katze schnellt nach oben, lässt man sie nur hoch genug fallen”[ref]Tom McDonnell vom Nebin Economic Research Institute[/ref], dass jeder sechste Arbeitnehmer unter der Armutsgrenze lebt und dass sich die Arbeitskonditionen immer mehr verschlechtert haben, z.B. durch die “zero hour contracts”, die die Arbeitenden zwar verpflichtet, ihren Firmen täglich, werktags wie an Wochenenden, zur Verfügung zu stehen, aber nur 15 Stunden pro Woche garantiert werden,

wenn sie behaupten, dass ein Schuldenschnitt dem deutschen Steuerzahler nicht zuzumuten sei, und ihm verschweigen, dass Deutschland nach den Verbrechen der Nazizeit ein Schuldenschnitt zugestanden worden ist, ohne den es nie wieder auf die Beine gekommen wäre?

Statt dessen fordern die europäischen “Partner, die Griechen sollten doch – verdammt noch mal – genauso unsozial handeln wie sie selbst und eine Mehrwertsteuer von 23% (!) einführen. Matteo Renzis Aussage zur Flüchtlingspolitik lässt sich gut verallgemeinern: “Wenn dies eure Idee von Europa ist, dann könnt ihr sie behalten.”
Da protzen die schwarzen Nullen, die Schäubels, Waigels, Merkels, Gabriels, Ekels usw., arrogant mit angeblicher Sachkenntnis, zeigen sich gleichgültig gegenüber “denen, die ihre Arbeit verloren haben, deren Wohnungen zwangsgeräumt wurden, die über keine Krankenversicherung mehr verfügen – als seien dies lediglich ökonomische Verwerfungen” (C. Emcke), ohne “dass wir eine total andere Politik einschlagen sollten” (Juncker), werfen den Griechen Erpressung vor, obwohl sie selbst sie erpressen und es mit ihrem Gerede geschafft haben, Griechenland noch weiter in Bedrängnis zu bringen, weil die Griechen aus Angst ihre Konten räumen, und nennen als Motiv ihres Handelns doch tatsächlich “Solidarität” mit Griechenland (Juncker) statt Solidarität mit den Banken, denen sie ja in Wirklichkeit fast alles zugeschanzt haben. Wenn das ihre Idee von humanitärer Solidarität ist …
Ist es Ignoranz (mangelnde Rationalität) als Ergebnis einer verfehlten Bildungspolitik, ist es die typische psychische Politiker-Erkrankung (Unfähigkeit zur Empathie, Neigung zum Selbstbetrug oder zur Heuchelei)? Oder sind diese Politiker beides, sowohl dumm als auch krank? Oder ist es doch nur ein schlaues politisches Kalkül: Wenn Merkel und Co weiter auf harten Maßnahmen bestehen und Griechenland an den Rand des Bankrotts treiben oder Tsipras zu unsozialen Maßnahmen zwingen, so erzeugen sie damit eine Angst, die die Wähler auch in anderen Ländern von linken Gruppierungen fernhalten soll – ohne Rücksicht auf das Leiden, das sie verursachen.[ref]Albrecht Müller auf den “Nachdenkseiten”: “Die neue griechische Regierung darf keinen Erfolg haben. Eine links bestimmte Regierung darf in Europa keinen Erfolg haben, um jegliche Lust auf eine ähnliche Entscheidung und Entwicklung in anderen Ländern von vornherein und rund um abzutöten. Deshalb haben wir im Januar auch schon prognostiziert, dass die damalige Troika alias Institutionen und die einzelnen Regierungen die neue Regierung Griechenlands und damit auch das ganze griechische Volk am ausgestreckten Arm verhungern lassen wird.”[/ref]
Und die ehemaligen Sozialdemokraten in der SPD[ref]Georg Schramms Rentner August, der, seitdem er denken kann, in der SPD ist, sprach von seiner Arbeitsgruppe „Sozialdemokraten in der SPD“.[/ref] unter Gabriel, was sagen sie dazu? Oh, lieber nichts, aus Angst, dass die Wähler den bestrafen, der ihm seine Lebenslüge zu zerstören droht? Auch krank? Auch Populisten? Überzeugungstäter? Überschrift im Wirtschaftsteil der „Süddeutschen“: „Gabriel, der Neoliberale“. [/dropdown_box]

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