Sie nennen es Kritik.
Auf der Suche nach der Urteilsfähigkeit bauen sich allerdings meist erhebliche Hindernisse auf, so dass ein Verzicht auf die Lektüre von Rezensionen im Feuilleton meist einen Zuwachs an Lebensqualität bewirkt – zumal häufig nicht das Werk, sondern die Eitelkeit des Kritikers im Mittelpunkt steht. Und dieser möchte zur Wahrung seiner Reputation sich möglichst nicht gegen etwas stellen, was gerade angesagt ist. Das gilt, wie bereits in anderen Beiträgen mehrmals bemerkt, besonders für Theaterkritiker. Aber da das Feuilleton nun einmal der Zeitung beiliegt, tut man, was man nicht sollte, und streift mit dem Blick manchmal über den einen oder anderen Artikel, z.B. über Peter Laudenbachs Kritik zu Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Lessings „Nathan“ in der „Süddeutschen“ (1.9.15).
Da erscheint es zunächst erfrischend, wenn Laudenbach kritisch urteilt: „Kriegenburg, ein Konditor des Regie-Theaters, feilt liebevoll am Stil seiner kindlichen Putzigkeit.“ Und: „Scherze mit ans Ohr gehaltenen Hupen und wasserspritzenden Luftbefeuchtern sorgen für Kindergeburtstagsatmosphäre.“ Und er fragt sich, „ob es wirklich nötig ist, dass der reiche Kaufmann Nathan, wenn er vom Geldverleihen und Zinseszins spricht, sich gierig und genießerisch die Hände reibt wie in einer antisemitischen Karikatur.“
Nun ist es gewiss so, dass die Form dieses Dramas von Lessing eine ansprechende Aufführung erschwert, weil es so sehr auf Belehrung angelegt ist und auch das Rührende des ,edlen Menschentums’, wie es einst die Darstellung Nathans durch Ernst Deutsch verkörperte, heute ein wenig angestaubt erscheinen mag. Zudem führt das Stück den Zuschauern tatsächlich eine Utopie vor, eine, wie Laudenbach es nennt, „Wunschfantasie“. Nicht das vorgeführte Böse, sondern das Gute soll beeindrucken. Man weiß aber, wie viel leichter es fällt, einen Bösewicht, das Böse, darzustellen als einen menschlichen Engel, die Verkörperungs des Guten.
So macht sich auch Laudenbach Gedanken zum Stück und zu einer möglichen Aufführungspraxis, denn Kriegenburg will ja auch unbedingt mit dem Gewohnten brechen. Bei seiner Suche nach etwas, was an dem alten Drama eine Aufführung erschweren könnte bzw. nach etwas, was neu zu entdecken wäre, kommt allerdings schreckliche Verwirrung nicht nur über Kriegenburg, sondern auch über Peter Laudenbach, so wie einst einst über Ajax, als er einen Widder für Odysseus hielt. (Ajax tötete sich übrigens aus Scham, als er seinen Irrtum erkannt hattte.)[dropdown_box]
Laudenbach nennt das Drama etwas abschätzig „harmonieselig“, weil die Utopie am Ende fast alle ,harmonisch’ vereint. Aber muss ein Drama, das eine Utopie, „Wunschfantasie“, vorführt, nicht so – unrealistisch – enden? Es geht, wie er ja selbst schreibt, nicht um ein Abbild der Wirklichkeit. „Lessing scheint, zumindest an der Handlungsoberfläche des Stücks, Religionsfrieden für eine Frage des guten Willens und der menschenfreundlichen Vernunft zu halten.“ Ja, warum soll das falsch sein? Dass die Verbreitung menschenfreundlicher Vernunft utopisch erscheint, spricht nicht dagegen[ref]Gleicher Vorwurf von Egbert Tholl in der “Süddeutschen” vom 8.3.16 anlässlich einer Inszenierung in Zürich: “Da fordert einer drei Religionen auf, sich durch gutes und wahres (?) Handeln zu bewähren, und schon wird alles gut.” In der Züricher Aufführung hatte die Regisseurin übrigens den geistreichen Einfall, den fanatischen Tempelherrn in einen Nato-Kampfanzug zu stecken. Das ist nett; so nimmt sie dem Zuschauer das Urteil ab.[/ref].
Die folgenden Aussagen Peter Laudenbachs scheinen gegen die Ansicht Lessings argumentieren zu wollen: Die besagte „menschenfreundliche Vernunft“ könne nämlich, so Laudenbach, keinen Religionsfrieden stiften; das zu denken wäre „naiv: Die Mörder beispielsweise des Islamischen Staates tun das, was sie tun, ja nicht aus Versehen und weil sie es nicht besser wüssten.“ Nun fragt sich hier der verärgerte Leser: Wer um Himmels willen, Lessing oder sonst jemand, hat unterstellt, dass nur „aus Versehen“ gemordet würde? Und was meint der Schreiber damit, dass die IS-Mörder – offenbar im Gegensatz zu dem, was Lessing annimmt – morden, obwohl sie ,es besser wussten’? (Zunehmende Verärgerung des Lesers: Was, zum Teufel, wussten sie besser?) Er fährt fort: „Sondern weil sie genau (!!!) das (???) wollen.“ Mit „genau das“, obwohl der Bezug von „genau das“ ungenau bleibt, meint Peter Laudenbach offenbar mörderische „Gewalt“ und die Freude daran. „Mit ,allseitigen Umarmungen’ dürfte man ihr kaum beikommen.“ Dem kann man nur zustimmen. Nur fragt sich der inzwischen schon wütende Leser : Wer um Himmels willen, Lessing oder sonst jemand, hat das unterstellt? „Das (!!!) ist (hier verzichtet er auf das Wort „genau“) das Problem allzu treuherziger „Nathan“-Inszenierungen“. Problem erfasst. Aha. Ach, so? So, so. Aha. Weiter so![/dropdown_box]