Für das Feuillleton

Wenn ich ein Vöglein1 wär2
und auch zwei3 Flügel4 hätt,
flög5 ich zu dir.
Weils aber nicht kann sein6,
bleib ich all hier.7

Bin ich gleich weit von dir,8 ,
bin ich doch im Traum bei dir 9
und red mit dir; 10
wenn ich erwachen tu, 11
bin ich allein.12

Es vergeht kein’ Stund in der Nacht, 13
da nicht mein Herz erwacht14
und an dich denkt,15
dass du mir viel tausendmal, 16
dein Herz geschenkt.17

 

  1. ein ganz klitzekleines, etwa so groß wie ein Kolibri? Auf jeden Fall nicht so eine fette Nachteule! Aber noch kleinere Flugobjekte, wie Insekten, Käfer oder Fliegen, kommen nicht in Frage: Der Gedanke, von der Geliebten unwillig totgequetscht zu werden, mutet eher schrecklich an. In diesem Punkt vermögen wir der Aussage des Autors bzw. der Autorin gut zu folgen.
  2. Der Gedanke einer Verwandlung in einen Vogel, erscheint unwahrscheinlich, wenn nicht unmöglich; folglich ist der Konjunktiv II (irrealis!!) hier mehr als angebracht. Bravo!
  3. Ein Flügel – gemeint ist natürlich kein Steinwayflügel, davon hätte ja wirklich ein einziger genügt, sondern ein Flugobjektflügel – wäre zu wenig – wie komisch sähe das denn aus! Außerdem würden die mangelhaften Flugkünste die Geliebte sicher wenig beeindrucken.
  4. vielleicht passender: Vögelchen mit „Flügelchen“
  5. Fliegen sollte das Vögelchen schon und sich nicht etwa so lächerlich machen wie der neuseeländische Kakapo (https://www.sueddeutsche.de/panorama/tiere-neuseeland-kakapo-papagei-vogel-des-jahres-kakapo-1.5117117). Möglichkeiten von Fluggeräten wie Hubschrauber oder Flugzeug scheiden aber offenbar aus. (Finanzielle oder ökologische Gründe?) Doch geht es trotzdem um ein möglichst geschwindes Erreichen des Zielorts Geliebte/r. Er oder sie – genauere Angaben über das Geschlecht des/der Sprechers/Sprecherin fehlen leider – möchte flugs bei ihr oder ihm sein. Möglicherweise bleibt ihm nur der die Wanderung zu Fuß. Oder per Anhalter?
  6. Die Unmöglichkeit dieses Wunsches wird durch zweifache Wiederholung dieser Zeile besonders hervorgehoben! Ein häufiges Missverständnis besagt, hier werde die Existenz einer gewissen Person namens  “Weils” angezweifelt oder – als Rivale? – verwünscht (“nicht kann sein”). Von dieser Person ist aber an keiner anderen Stelle auch nur andeutungsweise die Rede.
  7. Über das “hier” weiß die Forschung bis heute leider nichts zu sagen, auch wenn sich mehrere Ort darum streiten (u.a. Mönchen-Gladbach), dass nur sie mit dem “hier” gemeint sein könnten. Interessant ist allerdings, dass das Ich “all” hier bleiben möchte, also anscheinend mit allem, was es hat – aber auch mit seinen Gedanken und Sehnsüchten??? Das wäre ein Widerspruch, der den Leser in heftige Unruhe zu versetzen vermag.
  8. Eine rätselhafte Zeile: gleich weit von dir wie gleich weit vom Eifelturm oder so weit wie der Anfang vom Ende eines 1225 Eisenbahnwaggons umfassenden Zuges auf der Strecke nach Stalingrad zu General Paulus? Hier sind Spekulationen Tür und Tor geöffnet. Der Text erreicht hier eine  großartige Vieldeutigkeit, die ihm nicht schlecht ansteht.
  9. Das adversative “doch” weist auf einen Gegensatz hin, der den in der ersten Strophe ausgedrückten scharfen Kontrast erheblich mildert. Andererseits fragt sich der Leser, ob angesichts der in Strophe 1 alles sprengenden Sehnsucht der Traum ein Ersatz sein kann.
  10. Hier wäre eine Präzision bezüglich des Gesprächsgegenstandes wünschenswert gewesen, denn leeres Gerede wäre der Situation in keiner Weise angemessen!
  11. Dieses scheinbare Ausgleiten oder besser Abgleiten in die Vulgärsprache: Ich tu erwachen, statt:  ich erwache verleiht dem Text trotz all seiner Raffiniertheit eine zauberhafte Schlichtheit.
  12. Und entsprechend groß ist natürlich die Enttäuschung.
  13. Geschickt wird hier ein Aufheben der Zeit zur Ewigkeit ausgesprochen – wenn die Zeit in der Nacht stehen bleibt, dann kann es natürlich auch nicht mehr Tag werden -, die dann aber im nächsten Vers überraschend relativiert wird. Eine geradezu atemberaubend raffinierte Wendung!
  14. Oha! Alarm: Zu geringer Tiefschlaf führt auf Dauer zu schweren Herzerkrankungen. Eindringlich richtet sich hier ein Hilferuf an das Du.
  15. Gemeint ist natürlich, dass sich die Emotionen, nicht das rationale Denken des Ichs auf das abwesende Du richten.
  16. Ob es nun dreitausend- oder viertausendmal war, kann der/die Sprecher/in in diesem Zusammenhang getrost offenlassen. Schon die Summe Tausend erscheint mehr als ausreichend.
  17. Wenn die Sache so steht, dann nichts wie hin zu ihr bzw. ihm, notfalls auch mit der Bahn. Wenn alle Stränge reißen, auch als blinder Passagier. Aus der griechischen Mythologie wissen wir, dass auch die Blinden Seher waren!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert