Es ist schon schwierig, ein Kunstwerk als solches zu erkennen. Wenn es älter ist, gibt es gar kein Problem. Ein nackter Mensch aus Stein – klar, das ist Kunst. Würde eine Putzfrau nie wegwerfen – schon wegen des Gewichts. Oder ein lächelnde junge Frau auf einer Leinwand mit Rahmen – kein Problem für den Hausmeister. Ein gezeichnetes Häschen oder zwei betende Hände, an einer Wand hängend – kein Mitglied des SPD-Ortsvereins Leverkusen-Alkenrath würde auf die Idee kommen, sie zu entsorgen. Bekanntlich war das nicht so einfach bei einer mit Heftpflaster und Mullbinden versehenen Badewanne oder der berühmten Fettecke (Joseph Beuys: „Johannes, jetzt mache ich dir endlich deine Fettecke.“), 5 kg Butter unterhalb der Raumdecke angebracht, obwohl die Menge hätte zu denken geben sollen. Aber das Problem ist ja heutzutage, dass man dem Gegenstand nichts anmerkt: Das Kunstwerk kann alles sein, z.B. ein lebendiges Häschen[ref]Manchmal ist das Häschen allerdings mit erstaunlichen Fähigkeiten ausgestattet: „der weiße Hase, der von einer Fettecke zu einer anderen weiter entfernten Fettecke läuft, unterhält den Fluss der Revolution“[/ref], ein Bürstchen, die rätselhaft lächelnde Lebensgefährtin des Künstlers, Nacktschnecken, Butter, heißer Wind, Zahnpasta … Geht man zu Eröffnung einer Ausstellung von Gegenwartskunst, so entschärft sich das Problem meist dadurch, dass sich ein Preisschild in der Nähe des Werks befindet oder dass ein sensibler Mensch dem Bürstchen einen tieferen Sinn unterstellt: „Beuys hat sehr einfache Materialien verwendet und in einen ungewöhnlichen Zusammenhang gestellt: einen Besen, ein Bürstchen, ein Stückchen Ton, eine Kordel, oder Fett und Filz. Man muss viel darüber nachdenken, warum er die Dinge auf diese Weise zusammengeführt hat. Bei Beuys findet man die Nachdenklichkeit des am Niederrhein aufgewachsenen ländlichen Menschen verdichtet zu einer meditativen Qualität, auf die man sich einlassen muss. Das braucht Zeit, die viele nicht aufwenden wollen …“ (Franz Joseph van der Grinten)
Schön und gut, oder auch überhaupt nicht schön und gar nicht gut; das Problem mit der meditativen Qualität können wir – auch wenn wir gerne mal nachdenken – wegen Zeitmangels hier nicht lösen.
Aber …[dropdown_box]
wenn wir wüssten, dass ein bestimmter Mensch ein Künstler ist, dann wüssten wir auch, dass – fast? – alles, was er absondert, Kunst ist. Leider muss man hier mit Heinrich von Kleist ganz klar sagen: „Ach!“[ref]Das unscheinbare Wörtchen “Ach” gehört bekanntlich zu den zentralen Bestandteilen des Kleist’schen Werkes. Siehe László Földényis Essay über das ,Ach’ bei Kleist[/ref] Denn das Problem wird tatsächlich nicht kleiner. Es muss nämlich nicht jeder, der hirnlos daherredet[ref]Beuys bekannte: “Ich denke sowieso nur mit dem Knie.”[/ref], deshalb ein Künstler sein. Li Yinhe, eine chinesische Künstlerin aus Peking, hat einen Aufsatz überschrieben: „Wie man Arbeit vermeidet und lieber Kunstwerke schafft.“ Die Jünger dieses Lebenskonzepts waren Thomas Mann, wie wir aus seinen Werken wissen, sehr vertraut. Aber er sah sie als lebensflüchtige (“Stelle dir vor, an der ganzen linken Seite sind alle Nerven zu kurz bei mir! Es ist so sonderbar.”) “Hochstapler”, Scharlatane, die unfähig und faul vor den Anforderungen des Lebens in ein scheinhaftes Dasein entfliehen, in dem aus einem armen „WBürstchen“ alles werden kann. Joseph Beuys’ Definition: “Künstler sind Arschlöcher.” erscheint wenig zielführend. Denn Arschlöcher sind nicht unbedingt Künstler. Und auch Beuys’ These, nach der jeder Mensch ein Künstler sei, hilft uns im Grunde nicht weiter.[ref]Der Mensch „ist ein Künstler, ob er nun bei der Müllabfuhr ist, Krankenpfleger, Arzt, Ingenieur oder Landwirt. Da, wo er seine Fähigkeiten entfaltet, ist er Künstler.”[/ref] Gibt es denn nicht ein untrügliches Erkennungszeichen des wahren Künstlers, eine Art Kainsmal?
Wir neigen zur Antwort: ja. Seit Joseph Beuys wissen wir: Ein echter Künstler trägt über den beiden angewachsenen Ohren einen angewachsenen Hut. Und wenn dem Laien der Hut nicht sichtbar ist, dann ist es eine biologische Fehlentwicklung, weil der Hut zwar vorhanden ist, aber dem Laien verborgen. Wenn der Laie dann aber viel nachdenkt und zu einer meditativen Qualität gelangt, dann ist er fähig auch da den Hut zu sehen, wo er nicht vorhanden ist.
Foto: CC BY-Sa 3.0 Rainer Rappmann fiu-verlag.com (Natürlich ist keiner der Bärtigen, sondern der Hütige der Künstler.)[/dropdown_box]